Sehr geehrter Herr Gerstl!
Lassen Sie mich einleitend auf die ökonomischen und wirtschaftshistorischen Gegebenheiten Österreichs in den 1920er und 1930er Jahren eingehen.
Der Staat Österreich ging hochverschuldet und mit hohen (und weiter steigenden) Inflationsraten aus dem Ersten Weltkrieg hervor. Die junge Republik sah sich großen wirtschaftspolitischen Herausforderungen gegenüber, unter anderem auch, weil sie die Last der Nachfolge der österreichisch-ungarischen Monarchie zu tragen hatte. In diesen Jahren gab es verschiedene Ansätze die österreichische Wirtschaft zu stabilisieren und neue adäquate Institutionen zu schaffen. Man war sich einig, dass zunächst der hohe Verschuldungsgrad abgebaut werden müsse, bevor man eine neue Notenbank als Nachfolgeinstitut der in Liquidation befindlichen „Österreichisch-ungarischen Bank“ konstituieren könne. Verschiedene Vorschläge wurden im Zuge dessen diskutiert: Der damalige Finanzminister Schumpeter etwa wollte den Staatshaushalt durch eine umfassende Vermögensbesteuerung sowie eine allgemeine Steuererhöhung finanzieren. Andere wollten das Defizit durch ausländische Anleihen decken und die neu zu gründende Zentralbank mit ausländischem Kapital ausstatten.
1922 wurde schließlich der christlich-soziale Politiker und Prälat Dr. Ignaz Seipel Bundeskanzler, der die Gründung einer Notenbank ohne vorherigen Schuldenabbau in die Wege leitete. Das dafür erforderliche Kapital wurde von Banken gezeichnet. Das Vertrauen in die Goldkrone konnte jedoch durch diese Maßnahmen nicht wieder hergestellt werden und so stieg die Inflation der Goldkrone unaufhörlich weiter an. Die Bekämpfung dieser rapiden Geldentwertung wurde in den wirtschaftspolitischen Fokus gerückt. Eine Stabilisierung konnte erst durch die Gewährung einer Anleihe durch den Völkerbund erreicht werden, die an harte Bedingungen geknüpft war: Österreich mußte sich zur Sanierung des Budgets und zur Stilllegung der Notenpresse verpflichten und es musste sich – unter Einschränkung seiner staatlichen Souveränität – der Kontrolle eines, mit weitgehenden Befugnissen ausgestatteten, Völkerbundkommissärs unterwerfen. 1924 wurde schließlich der Schilling eingeführt, um ein sichtbares Zeichen für die neue stabilitätsorientierte Geldpolitik zu setzten. Ziel war es für den Schilling eine vollständige Golddeckung herzustellen, was eine Verkleinerung der Geldmenge nach sich zog. Diese deflationäre Politik stabilisierte zwar die neue Währung, es musste dafür allerdings ein Rückgang der Realeinkommen sowie ein markantes Ansteigen der Arbeitslosigkeit in Kauf genommen werden. All dies geschah am Vorabend jener Krise, die als Weltwirtschaftskrise oder „Great Depression“ in die Geschichte eingehen sollte und Massenarbeitslosigkeit und Armut in unerwartetem Ausmaß mit sich brachte.
In der damaligen Zeit waren andere wirtschaftspolitische Paradigmen vorherrschend als sie dem gegenwärtigen Wissens- und Forschungsstand entsprechen. Vereinfacht gesagt vernachlässigte man die Nachfrageseite der Ökonomie und ging davon aus, dass sich jedes Angebot auch eine Nachfrage schafft. Man dachte, dass Arbeitgeber auch in der Krise bereitwillig investieren, produzieren und neue Arbeitsplätze schaffen würden, wenn man nur die Märkte sich selbst überließe. Erst Ökonomen wie Knut Wicksell und vor allem John Maynard Keynes deckten die Unzulänglichkeiten der damaligen Theorien auf und lenkten den Blick auf die Nachfrageseite des Marktes. Keynes’ bekannte Erkenntnis, dass eine Ökonomie sich auch bei Unterbeschäftigung in einem Gleichgewicht befinden könne, machte klar, dass sich Vollbeschäftigung in einer derartigen Situation nicht von selbst einstellen würde. Somit komme dem Staat eine bedeutende aktive Rolle im Wirtschaftsgeschehen zu. Keynes zufolge müsse der Staat in derartigen Situationen durch gezielte Investitionen die Nachfrage stärken, um so die Arbeitslosigkeit zu reduzieren.
Das Wörgler Experiment der 1930er Jahre fiel nun in diese Zeit mit extremer Deflation, Massenarbeitslosigkeit und Armut. Die an Stelle des Geldes ausgegebenen Arbeitswertbescheinigungen mussten jeden Monat mit einer Marke im Wert von einem Prozent des Nennwerts versehen werden, um ihre Umlauffähigkeit nicht zu verlieren. Dies entsprach einer jährlichen Inflationsrate von 12 %. Durch die hohe Geldumlaufgeschwindigkeit wirkte das Freigeldexperiment stark inflationär. Es konnten auch gewisse Erfolge bei der Reduzierung der Arbeitslosigkeit verbucht werden. Der später durch die Phillipskurve bekannt gewordene Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit wurde hier also schon deutlich.
Wesentlich für die Senkung der Arbeitslosigkeit in Wörgl war nicht zuletzt auch, dass die Gemeinde ihre - nun in Schwundgeld bezahlten - Steuergelder für die Durchführung von Infrastrukturprojekten verwendete, die einen positiven Multiplikatoreffekt aufwiesen. Die inflationäre Wirkung des Freigelds kann zwar in Depressionsphasen eventuell vorteilhaft sein, unter normalen Umständen würde es die Inflation unkontrolliert in die Höhe treiben. Die Abschaffung des Zinssystems würde daher auch nicht alle wirtschaftlichen Probleme lösen und Instabilitäten verhindern, sondern vor allem neue Probleme mit sich bringen.
Des Weiteren ist ungeklärt, wie in einem derartigen System ein Kapitalstock aufgebaut werden kann. Bekannterweise erfüllt Geld wichtige Funktionen, so dient es als Zahlungs- bzw. Tauschmittel, Recheneinheit und Wertaufbewahrungsmittel. Dadurch ermöglicht es Individuen ihren Konsum zu verschieben - also zu sparen. Dieses Geld wird dem Wirtschaftskreislauf nicht entzogen, sondern fließt via Banken in Form von Krediten in die Wirtschaft zurück. Ohne Zinssatz gibt es keinen Anreiz zu sparen und daher auch keine Möglichkeit einen Kapitalstock aufzubauen. Die Bildung von Kapital ist allerdings für wirtschaftliches Wachstum unumgänglich, da es die Voraussetzung für Investitionen in Forschung und Entwicklung ist, die Produktivitätssteigerungen und nachhaltiges Wachstum ermöglichen. Des Weiteren könnte Geld, das nicht unmittelbar in den Konsum fließt, auch nicht für die Zukunft angespart werden, da es ja an Wert verlieren würde.
Darüber hinaus gilt es zu berücksichtigen, dass es in einer globalisierten Welt stets konkurrierende Volkswirtschaften gibt. Es gäbe somit auch immer einen Anreiz aus diesem Freiwirtschaftssystem auszuscheren und Zinsen zuzulassen. Die Folge wäre, dass das Kapital dann in jene Regionen abwandert, in denen Zinserträge erwirtschaftet werden können. Dies würde zu einer Destabilisierung der am Schwundgeld festhaltenden Ökonomien führen.
Verboten wurde das Wörgler Geldexperiment schließlich 1933 vom Verwaltungsgerichtshof in letzter Instanz, da es einen Verstoß gegen das Banknotenprivileg darstellte. Dieses Monopol auf die Geldausgabe durch die Zentralbank ist ökonomisch sinnvoll und begründbar, denn es bringt eine Reihe von mittel- und langfristigen Vorteilen für jeden Einzelnen mit sich. Ein großer Währungsraum mit einheitlicher Geldpolitik schafft Transparenz, da Güterpreise vergleichbar sind. Dies ermöglicht Unternehmen und Haushalten langfristige Investitionen zu planen und reduziert die Transaktionskosten. Die Zentralbank sorgt dafür, dass das Zinsniveau die wirtschaftliche Entwicklung unterstützt, indem sie ihre geldpolitischen Instrumente situationsadäquat einsetzt. Ebenso legt sie ihr Augenmerk auf die Stabilität der Währung, um eine zu hohe Inflation zu verhindern. Die Durchführung einer effizienten Geldpolitik setzt allerdings einen einheitlichen Währungsraum voraus, denn die Schaffung eines gesetzlichen Zahlungsmittels innerhalb eines bereits bestehenden Währungsraums könnte das Vertrauen in die bestehende Währung unterminieren. Nur eine einheitliche, stabile Währung kann daher mittel- und langfristig die wirtschaftliche Prosperität begünstigen.
Lassen Sie mich noch einmal die Rolle der Zinsen in der Wirtschaft erläutern: Wie bereits in der Beantwortung Ihrer ersten Frage dargestellt, werden Zinsen letztlich immer in der Realwirtschaft erwirtschaftet. Vereinfacht ausgedrückt können Zinsen bezahlt werden, weil Geld in Projekte investiert wird, die eine höhere Rendite erwirtschaften als Zinsen bezahlt werden müssen. Zinsen sind nur der Preis dafür, dass man mit geborgtem Geld arbeiten kann. Der Zins übernimmt dabei auch eine allokative Funktion, da er ohne direkte Absprache oder zentrale Planung das Kapital in jene Wirtschaftsbereiche transferiert, die eine entsprechende Rendite erwarten lassen. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist die OeNB keine Befürworterin eines zinslosen Systems.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr
Ewald Nowotny
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